Wurzelgrund

So wenig Erde braucht sie, hat sich den
winzigen Wurzelgrund überm Rinnstein
genommen, nah an einer Autotür, nah
an vorbei eilenden Schritten, viel zu nah
am Zertretenwerden.

Aber da steht sie. Aufrecht auf dünnem
Stengel hat sie ihr kleines Mohn-Rot
aufblühen lassen, zwei Knospen gewagt.
Steht und nickt in den Wind.


Inkognito

Bin unterwegs ohne Namen. Weiß nicht,
ob mein Gesicht mich noch kenntlich macht
– kein Spiegel zur Hand, kein Begleiter. Nur
die drängelnde Meute der Erinnerungen.

Ich lasse ihnen die lange Leine, damit
sie sich austoben können, ohne Vorsicht,
ohne Rücksicht, unstet, wie sie sind.

Sollten sie sich losreißen, sich verirren,
nicht zurückfinden zu mir – was bliebe
mir als Substanz? Nur die Gedanken
beim Gehen im flüchtigen Heute?

Inkognito unterwegs, grüß ich den all-
gegenwärtigen Wind, der mich nach Haus
wehen wird. Hierhin oder dorthin.


"Wir führen Buch und erleiden Verluste"*

"Vorm Fenster fugendichte Nacht",
lese ich in alten Notzizen. Wo war ich da?
Und wie lange muss das her sein:
dass es Dunkelheit gab, die Hand
nicht vor Augen zu sehn?

Längst umzingelt die Nächte von Licht,
dem Rollläden nicht gewachsen sind,
Blinken, das sich durch Ritzen stiehlt,
Laternen, die keinen Schatten dulden.

Und Stille? Zur-Ruhe-Kommen?
Aufatmen: Aaah, es ist Nacht?
Vergeblich zieh ich geräuschvolles
Zwielicht mir über die Ohren...

                          * Fernando Pessoa


November-Blues

Was Zeitungen schwarz auf Weiß
berichten, das Radio über den Äther
schickt (...ach das schöne alte Wort,
seine wolkenlose Himmelsweite...)
– es droht mir den Tag zu vergällen.

Ans Fenster flüchten: Da draußen
vielleicht noch Abschied nehmende
Vogelstimmen irgendwo im Gebüsch,
ein Sonnenstrahl auf letztem Blattgold,
eine kleine Lichtmusik?

Zu spät.
Nebel zieht den Vorhang vor, sperrt
Farben und Töne aus. Und mich ein.

 

Zweisprachig in "Poems for Life" 2021


Dieser Herbst!

Unbeirrbar, dieser Herbst! Und macht's wie immer:
Weckt die Farben auf, die unterm Blattgold schliefen,
zieht, mit der tief gestellten Sonne vereint, alle
Beleuchtungsregister: Wald, Gärten, Felder rückt er
in dieses Licht, das nur er kann – kein Frühling,
kein Sommer, Winter schon gar nicht. Nur er.

Und ich will es sehen, will schauen, nichts als Auge
will ich sein für das rot-orange-gelbgoldene Lodern,
den in Brand geratenen Ahorn, den hell angestrahlten
Tanz der Birken, die Glut der letzten Birnbaumblätter.
Will auch die Luft sehen, die so durchsichtig ist
wie sonst nie, will sie einatmen, als wäre sie rein.

Hören, was der Herbst sagt, will ich nicht. (Nein,
nicht wieder sein Memento...). Doch auf dem
Waödweg hat er mich schon überlistet: knistert
und raschelt unter meinen Schuhen, damit ich
ja nicht übersehe, was übrig bleibt von allem Glanz.

 

Zweisprachig in "Poems for Life" 2021