Verlegte Wörter

Andere Leute verlegen ihre Brille, den Hausschlüssel, das Taschentuch, das Portemonnaie. Sie hat ihre Wörter verlegt.
Sie ist 80, aber sie weiß, wo ihre Brille ist. Sie vergisst nie den Hausschlüssel, sie denkt immer dran, ein frisches Taschentuch einzustecken, Geld ins Portemonnaie zu tun, das Portemonnaie in die Tasche. Sie weiß, wann es halb zehn ist – dann muss sie mit dem Hund raus. Aber sie sagt: um sechs. Oder nur: viertel vor. Oder: drei. Und hört es und wird wütend, weil sie nicht sagen kann: um halb zehn. Ich krieg so die Wut, sagt sie.
Wenn sie wütend wird, bin ich erleichtert. Aber wenn sie in Tränen ausbricht, wenn ihre Stimme klein und rau wird und verzweifelt... Welche Wörter soll ich dann sagen, damit sie ihre wieder findet? Irgendwo müssen sie sein; sie weiß, dass sie da sind. Sie hat alle Wörter im Kopf. Aber es ist, als wäre da ein riesiger Schrank, in den eingebrochen wurde, in dem alles wild durcheinander geworfen ist, zerrissen manches, nicht wieder zu erkennen. Nur in einer kleinen Schublade liegen Wörter, liegen ganze Sätze noch ordentlich sortiert. Die kann sie sagen. Aber es sind immer zu wenige. Oder nicht die richtigen, nicht die, die genau zu den Dingen passen, nicht die, die sie mir gerade jetzt am Telefon sagen will, die sie doch ganz genau kennt. Ich weiß es doch, sagt sie, warum kann ich es nicht sagen? Das kann sie sagen, fließend, ohne zu stocken. Sie spricht gern, möchte sich mitteilen. Und kann nicht fassen, was da mit ihrer Sprache passiert ist. Wenn sie besonders unzufrieden mit sich ist, fängt sie an, sich zu beschimpfen: bin so blöde, alles verdreht, schimpft sie, dumme Alte! Sie gibt sich die selbst die Schuld, wenn wieder Wörter auf der Zunge kleben bleiben, nicht über die Lippen wollen. Oder wenn auf einmal nur Silben da sind, die sich nicht zusammenfügen. Die sich an manchen Tagen in ihrem Mund verquirlen zu etwas, dessen Sinn ich fieberhaft zu erraten suche, ehe sie noch merkt, was sie gesagt hat, ehe wieder der Schrecken sie überwältigt. Ihr Schrecken ist meiner: könnten nicht  auch mir die Wörter den Zugriff verwehren, mich im Stich lassen?
Manchmal holt sie aus der vom Chaos ausgesparten Schublade Kinderwörter, setzt sie für die fehlenden. Oder hängt ein kindliches „chen“ an ihre erwachsenen Wörter. Hühnerchen, sagt sie. Nur hat sie eigentlich sagen wollen: Eier. Sie sagt auch: hell, weiß – na, du weißt doch! Und meint Milch, meint Quark, meint vielleicht Pudding.
Ich staune über die Phantasie, die sie aufbringt, damit ich ihre versteckten Wörter finden soll. Haben wir richtig gemacht! sagt sie dann und klingt stolz.
Nie muss sie aber um Worte ringen, wenn sie eine ihre liebevollen kleinen Floskeln für angebracht hält: Alles, alles Gute! sagt sie. Sie sagt es nicht nur zum Geburtstag. Schlaf gut, träum süß, sagt sie. Meist ist dann wirklich Abend. Und mach es dir schön, sagt sie. Das sagt sie mir fast jeden Tag.
Manchmal erfindet sie Wörter. Das heißt, sie stellen sich ein wie von selbst. Sie klingen, als gäbe es sie, manche ähneln denen, die gerade nicht sagbar sind, aufs Haar. Sie scheint mit sich zufrieden, während sie spricht – bis sie auf einmal hört, dass da etwas nicht stimmt. An guten Tagen lacht sie dann, ein bisschen verlegen. Aber es kann auch sein, sie sagt streng: So ein Quatsch!
Nein, der durchwühlte Schrank reicht als Bild nicht aus. Katz und Maus  spielen die Wörter mit ihr. Sind ein andermal wie scheue Vögel, die auffliegen, sobald sie absichtsvoll die Hand nach ihnen ausstreckt. Nur aus freien Stücken lassen sie sich darauf nieder, nach Belieben flattern sie auf und davon – eben noch, eben noch hat sie ganz einfach sagen können: Ich bin spazieren gegangen, mit dem Hund. Sie will weiter erzählen, muss etwas erlebt haben, ihre Stimme freut sich noch:
Da war... sagt sie, hab ich gesehen, war da ein... ein...
Sie wird aufgeregt, ich drücke den Telefonhörer ans Ohr, will nicht verpassen, was auf die richtige Spur führen könnte.
Bin ich gegangen, wiederholt sie, schon ungeduldiger mit sich selbst, und da war doch – stell dir mal vor, war da ein – ein...
Das Wort kommt nicht.
Ich höre ihre Stimme, die ich länger kenne als jede andere. Ich höre, wie sie stammelt, sprechen will wie früher, wie immer. Wie sie sich müht, wie Pausen zwischen die Wörter fallen. Oder wie die Wörter selbst zu fallen scheinen – als fielen sie vom Himmel, wirbelnde Schneeflocken, von denen sie jetzt nur eine einzige, eine ganz bestimmte einfangen müsste, aber da wirbelt der Schnee immer dichter, ich höre sie stöhnen vor Enttäuschung...
Aphasie, wie harmlos das klingt. Ein Wort für etwas, dem ich mit anderen Wörtern, mit immer anderen Bildern beizukommen versuche. Jeden Tag.
War es ein Tier? rate ich blindlings.
Ja, ja! Ein... Viech! kommt ihre Stimme freudig aus dem Hörer, lag da auf dem... saß... und auf einmal hoch und weg ge... und weg ge...
Weggelaufen? frage ich und rate weiter: ein Reh? Ein Igel? Eine Katze? Ein Vogel vielleicht?
Nein, nein, nein – ach, kann ich dir nicht sagen, geht wieder nicht...
Ich höre, wie die Freude aus der Stimme schwindet. Ist das denn nicht furchtbar, sagt sie leise, das ist doch furchtbar.
Ja, denke ich. Und rede dagegen an, versuche unbeschwert zu klingen: Komm, das kriegen wir doch raus, haben wir doch schon oft...  
Und schon schöpft sie wieder Mut, probiert es wieder. Weil es doch nicht sein kann, dass ihr die Wörter nicht gehorchen, das kann und kann doch nicht sein!
Fuchs, fällt mir ein: War es ein Fuchs?
Sie jubelt ein lang gezogenes Ja! Ich höre sie tief ausatmen vor Erleichterung.
Das ist ja nett, sage ich, bin genauso erleichtert wie sie. Ein Fuchs! Einfach so auf dem Weg? Und so nah am Haus? Wie der da hinkommt... eigentlich komisch, oder?
Nein, nein, Füchse gab es hier schon immer, sagt sie.
Kein Zögern, kein Stolpern, nicht die kleinste Unsicherheit. Sie hat ein Wort wieder gefunden, hat gehört, dass sie es aussprechen kann.
Füchse, Füchse, Füchse! wiederholt sie, die Stimme strahlend: Füchse!

(In: "Zur Zeit", Hrsg. Günter Guben und Astrid Braun, Stuttgart 2008)