Szymborskas Haus

(Dieser Text entstand zum polnisch-deutschen Abend „Unter Freunden“, der am 6. März 2007 im Stuttgarter Schriftstellerhaus stattfand. Er bezieht sich auf eine Reise nach Poznan zusammen mit Günter Guben im September 2004; im September 2008 ist der Text in der zum 25jährigen Bestehen des Stuttgarter Schriftstellerhauses herausgegebenen Anthologie "Zur Zeit" erschienen . 

September 2004. Ausgerechnet „Casablanca“ hieß das Lokal in Bnin, in dem wir mit Genuss zu Mittag aßen und dabei ins Politisieren gerieten. Ich empfinde eine kleine Scham darüber, wie genau unsere polnischen Gastgeber über die politischen Verhältnisse in Deutschland informiert sind und wie verschwindend wenig ich dagegen über das gegenwärtige Polen weiß.
Lieber auf poetisches Gebiet ausweichen, denn hier in Bnin (jetzt Kórnik) ist die Szymborska geboren. Da möchten wir natürlich ihr Geburtshaus sehen.

Wir parken auf dem von alten Bäumen überschatteten Dorfparkplatz davor, spazieren die paar Schritte hinüber, warme Septembersonne und einen fast frühlingshaften Wind auf der Haut. Es wird nichts hergemacht von diesem Geburtshaus – fast ist das kleine, ziemlich hoch oben an der rechten Außenmauerkante angebrachte Messingschild, das auf die Dichterin hinweist, zu übersehen.
Aber das alte Haus mit dem schön geschwungenen klassizistischen Giebel vor dem roten Biberschwanzdach hat etwas Herrschaftliches an sich, erinnert mich ein wenig an die Kavaliershäuser rund um Schloss Solitude. Der Vergleich ist nicht zu weit hergeholt: auch dieses langgestreckte, eher niedrige Gebäude gehörte ursprünglich zum Schloss Kórnik, höhere Bedienstete wohnten wohl hier. Man sieht ihm seine Jahre an: Über das Rot der Dachziegel hat der Regen vieler Jahrzehnte schwarze Tränenspuren gezogen, der Putz ist dunkelfleckig wie alte Haut, das querovale Fenster ganz oben im Ziergiebel sieht aus wie erblindet, scheint mit grauem Mörtel verschlossen. Rechts und links der braunen Kassettenholztür zieht sich ein zwei Handbreit hohes Backsteinmäuerchen, man könnte da etwas abstellen vielleicht, oder Kinder nehmen es als Sitzbank. Sprossenfenster zu ebener Erde – helle Steinplatten improvisieren einen Gehweg, ein Streifen Gras und Pflanzkübel schirmen zum Parkplatz hin ab –, die Scheiben blinken anheimelnd hinter roten Geranien.

Hier also das Kind Wislawa. Ich schlendere um die Ecke, wo die Gehwegplatten enden, in eine unbefestigte Dorfstraße übergehen; im rechten Winkel eine Reihe kleinerer Häuser, handtuchschmal ihre bunt wuchernden Vorgärtchen – da haben die ersten Spielkameraden gewohnt, denke ich mir.

„Ich schüttle das Gedächtnis“ – heißt es in einem von
Szymborskas Gedichten, und weiter:

„vielleicht flattert aus seinen Zweigen
etwas seit Jahren Eingeschläfertes
geräuschvoll auf.“
(aus: „Am 16. Mai des Jahres 1973)

Zöpfe, phantasiere ich, Zöpfe muss sie gehabt haben, ein lebhaftes kleines Mädchen sehe ich vor mir, das mit den anderen wilde Spiele spielt – und manchmal ganz still seitab sitzt, vielleicht mit einem Stöckchen Wörter in den Sand der Dorfstraße ritzt, nicht mehr ansprechbar. Was machst du denn bloß, Wislawa? rufen die Kinder, und sie springt auf, dass die Zöpfe fliegen, rennt weg, ruft vielleicht über die Schulter zurück: Wiersze! Gedichte mach ich!

Ja, ja, ich phantasiere. Später las ich, dass die Eltern schon 1925 hier weggezogen sind, nach Torun; da war Wislawa also zwei Jahre alt. Vielleicht werde ich einmal erfahren, wie ihre Kindheit wirklich war. Aber die Bilder in meinem Kopf lassen sich nicht vertreiben – sie passen zu ihrem Geburtshaus, zu ihren Gedichten, zu den Fotos, die ich von der berühmten alten Dame kenne: Vielleicht hatte sie schon damals etwas von diesen besitzergreifenden Blick, mit dem ihre schwarzen Augen uns ansehen. Fotos, die sie fast immer mit dieser feinen seitlichen Neigung des Kopfes zeigen, einer fast aristokratischen Haltung, die genau so viel zweifelnde Aufmerksamkeit und leisen Spott wie freundliche Verbindlichkeit ausdrückt. Irgendwo in diesem ausdrucksstarken Gesicht nistet – wie in ihrem alt gewordenen Geburtshaus in Bnin – auch Trauer. Eine Trauer, die viel weiß. Aber die Mundwinkel von Szymborskas leisem Lächeln weisen immer nach oben. Vielleicht ist das ihr Geheimnis. Und das Geheimnis ihrer Gedichte:

„Nicht ohne Reiz ist diese schreckliche Welt,
nicht ohne Morgen,
für die es aufzuwachen lohnt.

Auf dem Schlachtfeld von Maciejowice
ist das Gras grün
und der Tau auf dem Gras durchsichtig,
wie Tau eben ist.“

 

(Deutsche Fassung der zitierten Gedichte: Carl Dedecius.)

Der Text ist in der Übersetzung von Eugeniusz Wachowiak zuerst 2007 in der polnischen Zeitschrift "pazdziernik" und nochmals 2008 in "AKANT" erschienen.